Die Digitalisierung verändert auch die Welt der wissenschaftlichen Texte. Lehrbücher, Monographien, Zeitschriftenbeiträge erscheinen nicht mehr nur gedruckt, sondern auch digitalisiert. Hinzukommen Texte, die gar nicht auf Papier veröffentlicht werden, etwa Online-Zeitschriften oder wissenschaftliche Blogs. Digitales Lesen ist also vermehrt angesagt. Dabei ist vertieftes Lesen am Bildschirm schwieriger als auf Papier − doch es kann trotzdem gelingen, wenn Sie dabei gezielt vorgehen.
Komplexe Leseaufgaben lassen sich besser auf Papier bewältigen
Unter dem Akronym E-READ (Evolution of Reading in the Age of Digitisation) haben sich über 130 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Psychologie, Pädagogik, Neuro-, Sozial und Kulturwissenschaft zusammengeschlossen, um zu erforschen, wie die Digitalisierung unser Lesen beeinflusst und wie wir die unterschiedlichen Vorteile von Papier und Bildschirm gezielt nutzen können. Insbesondere haben sie untersucht, ob es sich auf unsere Fähigkeiten auswirkt, einen Text zu verstehen, ihn vertiefend zu erarbeiten und seine Inhalte zu erinnern, ob wir ihn digital oder auf Papier lesen. Während sich beim narrativen Lesen kaum Unterschiede zeigen, stellen die Forscherinnen und Forscher fest, dass Papier der beste Träger für längere informative Texte ist. Ab einer Länge von 500 Wörtern werden diese Texte auf Papier signifikant besser verstanden (zum Vergleich: Dieser Text umfasst 674 Wörter). Vereinfacht lässt sich sagen, dass die Überlegenheit von Papier zunimmt, je anspruchsvoller die Leseaufgabe ist: unter Zeitdruck, bei komplexeren Texten, wenn vertieftes Verständnis abgefragt wird und nicht nur Kernsätze. Die generelle Tendenz, dass Leserinnen und Leser überschätzen, wie viel sie behalten können, verstärkt sich zudem beim digitalen Lesen.
Physische Anker erleichtern behalten
Die Forscher:innen erklären die Überlegenheit des Papiers unter anderem damit, dass die physische Verortung des Gelesenen das Erinnern begünstigt: Sie kennen vielleicht das Phänomen, sich zu erinnern, dass ein gewisser Inhalt oben links, ungefähr im letzten Drittel eines Buches steht. Auch weitere physische Anker wie Gewicht, Dicke des Textes, Geruch, fehlen bei digitalen Texten weitestgehend. So hatte in den Studien insbesondere Scrollen einen negativen Effekt auf das Behalten von Gelesenem. Mit dem erhöhten Ablenkungspotenzial beim digitalen Lesen wollen wir an dieser Stelle gar nicht anfangen …
Sollten Sie jetzt dazu verführt sein, diese sogenannten Screen Inferiority Effects einer älteren, weniger digital affinen Generation zuzurechnen, und deshalb darauf zählen, dass diese Effekte sich nach und nach ausschleichen, hält die Forschung darauf eine enttäuschende Antwort bereit: Diese Effekte verstärken sich seit dem Jahr 2000. Es scheint also insbesondere jüngeren Menschen an adäquaten Strategien zu fehlen, digitale Texte vertieft zu lesen.
Digitale Texte noch bewusster lesen
Wäre es demnach konsequent, gänzlich auf digitale Texte zu verzichten? Ein solcher Verzicht ist in der Wissenschaft schlecht möglich und wäre aufgrund der offensichtlichen Vorteile digitaler Texte auch nicht ratsam. Schließlich machen diese es möglich, die Textrepräsentation, etwa Schriftgröße und Hintergrundbeleuchtung, auf unsere Bedürfnisse abzustimmen. Vor allem punkten digitale Texte mit leichterem Zugang, einfacherer Speicherung und Verbreitung sowie besseren Suchmöglichkeiten. Die Forschungsergebnisse sind auch nicht dahingehend zu verstehen, dass vertiefendes Lesen auf digitalen Geräten nicht möglich ist. Es ist nur weniger wahrscheinlich, dass es tatsächlich passiert.
Deshalb sollten Sie beim digitalen informativen Lesen noch mehr als beim Lesen auf Papier bewusst Vertiefungsstrategien einsetzen. Fragen Sie sich, warum Sie einen Text lesen. Wir lesen anders, wenn wir lernen, also wenn wir einen Text in Informationspakete unterteilen, die wir uns merken wollen, als wenn wir für eine Hausarbeit gezielt nach einer bestimmten Information suchen. Überlegen Sie sich, welche Lesetechniken Sie dafür am besten wie einsetzen, etwa indem Sie sich erst in einem Text orientieren, ihn dann mit den Augen scannen, um herauszufinden, welche Stellen Sie vertiefend lesen müssen. Vor allem: Verarbeiten Sie den Text während des Lesens kognitiv. Nutzen Sie die Annotationstechniken der jeweiligen Software. Führen Sie ein Lesejournal, in dem Sie notieren, welche Erkenntnis Sie aus dem Gelesenen ziehen und welche Gedanken Sie sich dazu machen. Schreiben Sie Zusammenfassungen. Erstellen Sie Visualisierungen. Welche Techniken Sie auch bevorzugen, setzen Sie sie bewusst und mit Blick auf Ihr Erkenntnisinteresse ein. So ermöglichen Sie sich, auch digitale Texte erkenntnisfördernd zu lesen.
Literatur
Die zentralen Befunde hat E-READ in der Stavanger-Erklärung (einsehbare deutsche Version) zusammengefasst.
CC BY-NC-SA